Nikolaus von Kues: Leben, Persönlichkeit und Werk
von Walter Andreas Euler
Leben und Persönlichkeit des Nikolaus von KuesDie geistesgeschichtliche Bedeutung des Nikolaus von Kues
Literaturhinweise
Das Leben des Nikolaus von Kues ist (mit Ausnahme seiner Jugend bis zum Beginn des Studiums in Heidelberg) bestens erschlossen. Die mehr als 5000 erhaltenen Dokumente (so der Stand von 1992: MEUTHEN, Skizze, 5) ermöglichen auch einen zuverlässigen Blick auf die Persönlichkeit des Kardinals aus Kues. Das Projekt der von Erich Meuthen in Verbindung mit Hermann J. Hallauer initiierten Acta Cusana: Quellen zur Lebensgeschichte des Nikolaus von Kues (mittlerweile bis zum März 1452 im Druck erschienen; im Folgenden: AC) bestätigt im Detail die folgende Feststellung aus der bahnbrechenden Cusanusbiographie des französischen Gelehrten Edmond Vansteenberghe: "Peu de vies ont été aussi remplies que celle de Nicolas de Cues. Peu d´hommes ont été mêlés d´aussi près, à la fois aux évènements les plus importants et aux diverses manifestations du mouvement intellectuel de leur siècle." (Le Cardinal Nicolas de Cues, S. 5)
Geboren wurde Nikolaus 1401 in Kues, den genauen Geburtstag kennen wir nicht (vgl. AC I,1; n. 1). Gestorben ist er am 11. August 1464 in Todi in Umbrien, auf dem Weg von Rom nach Ancona. Diese beiden Orte, Kues und Todi, stehen gewissermaßen symbolisch für die geographischen und kulturellen Grundpfeiler der Existenz des Nikolaus von Kues, nämlich Deutschland und Italien. Nikolaus ist Deutscher von Geburt und wesentlich durch diese Herkunft geprägt. Diese Aussage klingt vielleicht erstaunlich, da sich die nationalstaatlichen Identitäten erst allmählich im Spätmittelalter, in Deutschland sogar noch später als etwa in Frankreich und England, heraus bilden und Cusanus, wie alle gebildeten Menschen seiner Zeit, meistens in lateinischer Sprache schrieb und oft auch gesprochen hat. Aber sein Latein ist nicht das schöne, rhetorisch ausgefeilte und an der klassischen Antike geschulte Latein der italienischen Humanisten; es ist gewissermaßen ein "deutsches", von sog. Germanismen geprägtes Latein. Nikolaus war sich dieser Tatsache nur zu gut bewusst. Im Vorwort zu dem Frühwerk De concordantia catholica schreibt er sinngemäß, dass die Deutschen das Lateinische nicht so elegant wie andere (d. h. vor allem die Italiener) beherrschen würden, sie bedürften dazu größter Anstrengungen und müssten gleichsam den Widerstand der Natur überwinden, aber - und dieses "aber" ist aussagekräftig in Bezug auf seine Persönlichkeit - sie seien deshalb nicht weniger intelligent als die anderen Europäer und ebenso zu großen Leistungen fähig (Opera omnia Nicolai de Cusa [= h] XIV2, n. 2).
Sein Lebensweg zeigt, dass Nikolaus von Kues sich sehr bemüht hat, zu beweisen, dass er nicht weniger begabt als andere sei. Cusanus war ebenso ehrgeizig wie selbstbewusst. Aus Stolz über seine Erhebung zum Kardinalat verfasste er 1449 eine autobiographische Notiz, in der es abschließend heißt: "Damit nun alle wissen, dass die heilige römische Kirche nicht auf Ort und Art der Herkunft sieht, hat der Kardinal diese seine Lebensgeschichte aufschreiben lassen" (AC I,2; n. 849). Diese Bemerkung ist für das Selbstverständnis des Nikolaus von Kues hoch bedeutsam: seinen Aufstieg in die höchsten Ränge der damaligen Kirche und Gesellschaft verdankte Nikolaus nach seiner persönlichen Einschätzung dem eigenen Können und seinem unermüdlichen Einsatz für die Sache der Kirche, nicht einer Geburt in einer adligen Familie, die üblicherweise den Weg bahnte.
Cusanus war der Sohn eines wohlhabenden Kueser Bürgers, der Henne Cryfftz (= Johann Krebs) hieß und Moselschiffe besaß. Auf den Namen verweist der Krebs in seinem Kardinalswappen. Er begann sein Studium 1416 in Heidelberg (der Eintrag in der Universitätsmatrikel ist erhalten: "Nycolaus Cancer de Coeße clericus Treuerensis dyocesis"; AC I,1; n. 11). Dort studierte er die artes liberales und wechselte nach einem Jahr nach Padua zum Studium des kanonischen Rechts. Padua war eine Eliteuniversität für Rechtswissenschaft, zu der es nichts Vergleichbares in Deutschland gab. In Italien kündigen sich zu dieser Zeit schon neue Bewegungen an, die in Deutschland noch nicht wirksam sind: Der Kunststil der Renaissance; die Bildungsbewegung des Humanismus; ein reger, frühkapitalistischer Handel; eine allmähliche Überwindung des Feudalismus, der die mittelalterliche Ständegesellschaft mit ihrer Enge und Beschränktheit aufhebt.
Cusanus bleibt sechs Jahre, von 1417-1423, in Padua. Er schließt sein Studium mit dem doctor decretorum, dem Doktor des kanonischen Rechtes ab und macht zugleich wichtige Bekanntschaften - er lernt Menschen kennen, die für seine spätere Laufbahn von Bedeutung sind und die ihm zum Teil ein Leben lang freundschaftlich verbunden bleiben. So machte er, um nur ein Beispiel zu nennen, in Padua die Bekanntschaft des berühmten Arztes und Mathematikers Paolo del Pozzo Toscanelli aus Florenz, der mehr als 40 Jahre später an seinem Sterbebett in Todi stehen sollte.
1423 kehrt Nikolaus von Padua nach Deutschland zurück. Später wird er Sekretär und Kanzler des Trierer Erzbischofs Otto von Ziegenhain. An der Universität Köln immatrikuliert er sich 1425 als Doktor des kanonischen Rechts (vgl. AC I,1; n. 25). Aufgrund seines Doktorats war er berechtigt, kanonistische Vorlesungen zu halten. Man nimmt an, dass er auch theologische Studien in Köln betrieben hat, u.a. bei Heymericus de Campo. Ein volles Theologiestudium hat er allerdings nicht absolviert. Die wirtschaftliche Basis seiner Existenz bilden kirchliche Pfründen. Cusanus ist zu dieser Zeit Kleriker, aber noch nicht Priester (Priester wird er vor dem Jahr 1440, der genaue Zeitpunkt ist unbekannt). Er lebt, darin ganz ein Mensch des Mittelalters, von dem Ertrag der Pfarrstellen, Dekaneien, Kanonikaten usw., die ihm für seine Dienste übertragen werden. Der berufliche Aufstieg des Nicolaus Cusanus lässt sich anhand der Zunahme seiner Pfründen verfolgen. Das mittelalterliche System begünstigte die sog. Pfründenjagd, die Anhäufung von kirchlichen Einrichtungen, um die sich ihr Besitzer natürlich nicht persönlich kümmern konnte und in der Regel auch gar nicht kümmern wollte. Die Seelsorge musste er anderen übertragen - ihm fiel aber der Überschuss an den Einnahmen zu. Cusanus wurde immer wieder als Pfründenjäger bezeichnet. Das ist insofern richtig, als er sich eifrig um Pfründen bemühte, die seine Existenz und seine politischen Einflussmöglichkeiten sicherten, da er ja weder ein Gehalt im modernen Sinn bezog noch auf die materielle Unterstützung durch eine Ordensgemeinschaft bauen konnte (vgl. MEUTHEN, Skizze, 21ff.).
Im Gegensatz zu typischen Pfründenjägern kümmerte Cusanus sich aber unermüdlich um seine Pfründen, wie wir aus den erhaltenen, überaus zahlreichen und in den Acta Cusana sorgfältig edierten Dokumenten wissen. Er schöpfte nicht nur Einnahmen aus den ihm übertragenen Pfründen ab, sondern sorgte auch für eine geregelte Seelsorge und geordnete ökonomische Verhältnisse. Im Umgang mit seinen Pfründen zeigt sich ein wesentlicher Zug seiner Persönlichkeit, der uns angesichts seiner Leistungen im Bereich der philosophisch-theologischen Spekulation eher erstaunt. Cusanus kümmert sich nie nur um das sog. Prinzipielle, sondern interessiert sich immer auch für die ökonomischen und juristischen Details. Er hat von seinem Vater, dem erfolgreichen Kaufmann Henne Cryfftz, einen ausgeprägten Sinn für die Bedeutung des Geldes und der Ökonomie gelernt und war selbst ein ausgezeichneter Verwalter der ihm übertragenen Güter, wie wir konkret im St. Nikolaus-Hospital in Kues feststellen können, dessen von Cusanus stammende Satzung sich seit mehr als 550 Jahren bewährt. Auch das verschuldete Hochstift Brixen konnte er als Fürstbischof innerhalb weniger Jahre sanieren (HALLAUER, Landesfürst in Brixen, 11-15).
1430, nach dem Tod des Trierer Erzbischofs Otto von Ziegenhain, vertritt Cusanus als Anwalt die Interessen des Bischofskandidaten Ulrich von Manderscheid, der eng mit seinem Vater und dessen Geschäften verbunden war. Ulrich war von einer Minderheit des Trierer Domkapitels zum neuen Erzbischof gewählt worden, die Mehrheit des Kapitels hatte sich für den Domscholaster Jakob von Sierck entschieden. Der Papst ernannte aber den bisherigen Bischof von Speyer, Raban von Helmstadt, zum Erzbischof von Trier. Da Ulrich von Manderscheid die Entscheidung des Papstes nicht akzeptierte, kam es zu jahrelangen Auseinandersetzungen, die sogar kriegerische Formen annahmen (vgl. MEUTHEN, Das Trierer Schisma von 1430).
Um seinen Mandanten gegen den Willen des Papstes durchzusetzen, geht Cusanus zum Konzil von Basel, das nach konziliaristischer Doktrin über dem Papst stand. Dort trifft er viele seiner italienischen Freunde aus der Paduaner Zeit wieder (etwa den Konzilspräsidenten Kardinal Juliano Cesarini) und tritt zugleich in die Welt der Theologie und der großen kirchlichen Politik ein. Cusanus macht sich - unabhängig vom Rechtsstreit um den Trierer Bischofsstuhl, den er bzw. sein Mandant verlieren - recht schnell einen Namen als Theologe und vor allem als hervorragender Rechtshistoriker. Er kannte die alten Quellentexte besser als die meisten anderen Konzilsteilnehmer und vermochte sie in den historischen Kontext einzuordnen. Erich Meuthen nennt Cusanus "den ersten Rechtshistoriker im strengen Sinn" (Skizze, 21; vgl. GRASS, Cusanus als Rechtshistoriker). Er wird zusammen mit anderen beauftragt, den Streit mit den böhmischen Hussiten zu schlichten und er verfasst den groß angelegten Reformplan von De concordantia catholica. Der programmatische Titel dieses, wohl in der zweiten Jahreshälfte von 1433 vollendeten Frühwerkes (vgl. AC I,1; n. 202) drückt sehr schön das zentrale Anliegen von Leben und Werk des Nikolaus von Kues aus. Cusanus setzt sich unermüdlich ein für die Versöhnung des Getrennten, die Überwindung von Gegensätzen, das Aufzeigen einer alles Seiende durchwaltenden Einheit, die Konkordanz und Harmonie - zwei zentrale Grundbegriffe des cusanischen Denkens - ermöglicht. Unter diesen Leitideen stehen sowohl seine Bemühungen um eine Reform der Kirche als auch seine philosophisch-theologischen Schriften.
Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass die große, im Februar 1440 in Kues vollendete philosophisch- theologische Schrift De docta ignorantia ("Das belehrte Nichtwissen") Gott als die coincidentia oppositorum, als Versöhnung der Gegensätze, betrachtet. Die Vorstellung, dass die Vernunft in "belehrtem bzw. wissendem Nichtwissen" (docta ignorantia), d. h. im Wissen um ihre Grenzen und ihre Vorläufigkeit, danach streben muss, jene innere Übereinstimmung alles Seienden zu ergründen, die von Gott stammt und sich in allem Seienden manifestiert, bildet die Mitte des cusanischen Denkens. Im Epilog, dem Giuliano Cesarini gewidmeten Nachwort der Schrift De docta ignorantia heißt es: "Es muss das dringlichste Anliegen unseres Geistes sein, sich zu jener Einfachheit zu erheben, wo das Widersprüchliche ineinsfällt." (h I, p. 163) Dieser Gedanke findet seinen Niederschlag in unterschiedlicher Form in praktisch allen philosophisch-theologischen Schriften des Cusanus.
In der Schrift De concordantia catholica. vertritt Cusanus die Ideen des gemäßigten Konziliarismus, d. h. er bekennt sich zum eingeschränkten Vorrang des Konzils vor dem Papst. Diese Haltung hat Cusanus später geändert. Zusammen mit der papsttreuen Minderheit verlässt Nikolaus 1437 das Konzil und wendet sich Papst Eugen IV. zu. Diese Wendung hat ihm gerade in Deutschland viel Kritik eingetragen. Er gilt fortan bei vielen, plakativ gesagt, als "Römling", als einer, der die Deutschen an das Gängelband des Papstes führen möchte. In dieser Weise wurde er noch 1538 in einer von Johannes Kymeus verfassten reformatorischen Flugschrift dargestellt (vgl. MENZEL [Hg.], Des Babsts Hercules). Es wurde ihm vorgeworfen, aus niederen Motiven die Seiten gewechselt zu haben, sprich: von der Papstpartei gekauft worden zu sein. Dafür gibt es keine stichhaltigen Beweise, zumal der Parteiwechsel für Cusanus mit großen Risiken in Bezug auf seinen Pfründenbesitz verbunden war (vgl. STIEBER, The "Hercules of the Eugenians"). Es gibt keinen Grund, seine eigene Begründung für den Wechsel als vorgeschoben zu betrachten. Das Konzil, an das Nikolaus so große Hoffnungen geknüpft hatte, konnte weder die innere Einheit der lateinischen Kirche herstellen, wie der sich verschärfende Streit mit dem Papst zeigte, noch war es in der Lage, für die Union mit der griechischen Kirche ein tragfähiges Konzept zu entwickeln. Im Augenblick des endgültigen Bruchs zwischen Konzils- und Papstpartei entscheidet sich deshalb Cusanus (ähnlich wie Giuliano Cesarini) für Papst Eugen IV., zu dem auch die Repräsentanten des Ostens mehr Vertrauen hatten.
Der Papst schickt ihn zusammen mit anderen Vertretern der lateinischen Kirche nach Konstantinopel, um den byzantinischen Kaiser und die Führer der griechischen Kirche zu einem Unionskonzil in Italien abzuholen (vgl. AC I,2; n. 295a). In Konstantinopel eröffnet sich Cusanus wieder eine neue Welt, die Welt der griechischen Kultur und zugleich die Welt der antiken Philosophie, die bei den Griechen noch stärker weiter lebt als im Westen. Aber in Byzanz wird Cusanus zugleich noch mit etwas anderem hautnah konfrontiert: der Bedrohung des christlichen Europa durch den Islam, d. h. konkret durch die muslimischen Türken, die in Südosteuropa auf dem Vormarsch sind und Konstantinopel unmittelbar in seiner Existenz gefährden. Der Islam hat Cusanus zeitlebens interessiert. Bereits in Basel hatte sich Cusanus die lateinische Übersetzung des Korans besorgt und er diskutierte mit dem spanischen Theologen Johannes von Segovia, wie man denn die Muslime zu einem Gespräch mit den Christen bewegen könne. Auch in Konstantinopel stöbert er in den Bibliotheken nach islamischen Schriften (vgl. AC I,2; n. 332). Man sieht daran, dass Nikolaus schon sehr früh über den Bereich des christlichen Europa hinausschaut und sich für andere Kulturen mehr als die meisten seiner Zeitgenossen interessiert. 1453, nach der Eroberung Konstantinopels durch die Türken, verfasst Nikolaus das Buch De pace fidei, zu deutsch: "Der Friede im Glauben". Er entwickelt dort einen visionären Plan zur Einigung aller Religionen, auf den ich später noch kurz zu sprechen kommen werde. 1460/61, wenige Jahre vor seinem Tod, befasst sich Nikolaus nochmals ausführlich mit dem Koran in dem Buch "Sichtung des Korans" (Cribratio Alkorani). Nikolaus ist einer der ganz wenigen christlichen Theologen, die es je gewagt haben, sich ernsthaft mit dem Islam auseinanderzusetzen.
Es ist bezeichnend, dass Nikolaus 1437 vom Papst ausgewählt wurde, an den Verhandlungen mit den Vertretern der Ostkirche teilzunehmen. Durch sein Denken, dass auf eine gerechte Übereinkunft zwischen Ost- und Westkirche zielte und, wie bereits erwähnt, die Konkordanz, die "Einheit in der Vielfalt", erstrebte, war er für diese Aufgabe geradezu prädestiniert, zumal er schon damals Kenntnisse der griechischen Sprache besaß (vgl. AC I,2; n. 297), die er in seinem späteren Leben noch wesentlich verbesserte (vgl. MONFASANI, Greek Language). Es gelang der Delegation, die byzantinischen Herrscher von ihrem Anliegen zu überzeugen und sie zu bewegen, mit nach Italien zu einem Unionskonzil zu kommen. Auf der mehrmonatigen Rückreise mit dem Schiff nach Italien hatte Cusanus fast täglich Kontakt mit den byzantinischen Gelehrten und wurde so vom genuin griechischen Gedanken der Sehnsucht nach der Weisheit und der Suche nach der verborgenen Logosnatur alles Seienden beeinflusst, der sich in allen seinen Werken findet. Zwei seiner bedeutendsten Schriften führen die Weisheit in ihrem Titel: Das Buch Idiota de sapientia ("Der Laie über die Weisheit"), entstanden 1450, und die kurz vor seinem Tod, wahrscheinlich Ende 1462, verfasste Schrift De venatione sapientiae ("Die Jagd nach Weisheit"). Möglicherweise beeinflusst durch diese fruchtbaren Kontakte führte Cusanus die entscheidende Grundidee zu seiner bereits erwähnten Schrift De docta ignorantia auf eine ihm während der Überfahrt zuteil gewordene Erleuchtung zurück (Epist. auct.; h I, p. 163).
Nach der Ankunft der Delegation in Italien schickt ihn der Papst wieder nach Deutschland. Cusanus gehört seit dem Erfolg von Konstantinopel "in die erste Reihe der europäischen Politiker" (MEUTHEN, Skizze, 66) und soll nun mithelfen, die Deutschen, die zwischen dem Baseler Konzil und dem Papst schwanken, wieder in den Schoß der römischen Kirche zurückzuführen. Auf zahlreichen Reichstagen streitet er für die Sache des Papstes - schließlich erfolgreich, denn 1448 kommt es zum Abschluss des Wiener Konkordates, welches den Einfluss des Papstes in Deutschland sichert. Sein Engagement für Papst Eugen IV. trägt Cusanus den Titel Hercules omnium Eugenianorum ein, der von Enea Silvio Piccolomini stammt (AC I,2; n. 427a), welcher Nikolaus von Kues auch zum ersten Mal als "Cusanus" bezeichnet (ebd.). Der ironisch gemeinte Titel: "Herkules aller Eugenianer" trifft sich mit Nikolaus´ Selbsteinschätzung, der in der Apologia doctae ignorantiae schreibt, niemand habe mit solchem Feuereifer (ferventia), der Partei der Baseler Konziliaristen widerstanden wie er (h II2, n. 6).
Nikolaus´ Einsatz für den Papst wird reich belohnt: 1448 wird er zum Kardinal (AC I,2; n. 784 und 863), 1450 zum Bischof von Brixen in Südtirol ernannt (AC I,2; n. 873-877). Bereits 1447 soll er, den schon Papst Eugen IV. in petto zum Kardinal kreiert hatte, nach glaubwürdiger Überlieferung auf dem Konklave, das Papst Nikolaus V. wählte, einige Stimmen erhalten haben (AC I,2; n. 740).
Bevor Nikolaus sein Bischofsamt in Brixen antreten kann, reist er als päpstlicher Legat durch das gesamte deutsche Reich (mit Einbeziehung der heutigen Beneluxstaaten), um den Jubiläumsablass des Jahres 1450 zu verkündigen und kirchliche Reformen in den Bistümern, Reichsstädten und Klöstern durchzusetzen (AC I,2; n. 951-953). Er wird auch, zusammen mit dem französischen Kardinal Estouteville, beauftragt, einen Frieden zwischen England und Frankreich und damit das Ende des sog. "Hundertjährigen Krieges" herbeizuführen. Durch die ihm übertragenen beiden Ämter (Kardinal und Fürstbischof von Brixen) wird er, der Bürgersohn von der Mosel, einem Prinzen gleichgestellt und ist zugleich ein Fürst des deutschen Reiches. Es ist nicht verwunderlich, dass ihm sein Aufstieg gerade im noch feudalistisch geprägten Deutschland Neid und Missgunst einträgt. Ein deutscher Kardinal gilt im Spätmittelalter als "weißer Raabe", d. h. als eine äußerst seltene Spezies, da es kaum Deutsche im Kardinalsrang gab (vgl. MEUTHEN, Skizze, 67).
Die Brixener Zeit des Cusanus ist die wohl spannendste, aber auch umstrittenste Periode in seinem Leben (1452-1458): Zum Bischof von Brixen wurde Nikolaus gegen den Willen des Tiroler Landesherren Sigismund von Tirol, der zugleich Vogt des Hochstiftes Brixen war, und des von diesem abhängigen Brixener Domkapitels durch die einseitige Ernennung des Papstes bestimmt. Hier zeichnen sich Konflikte ab, die nach einigen Jahren eskalieren sollten, obwohl der Herzog und das Domkapitel nach einigem Zögern die Ernennung von Cusanus anerkannten. Zu den späteren Konflikten trug auch Cusanus´ Amtsverständnis bei. Er weigerte sich obstinat, den Vorrang des mächtigeren Herzogs von Tirol anzuerkennen und sich diesem zu unterwerfen.
Außerdem wollte er sein Bistum in jeder Hinsicht zu einer Musterdiözese machen. Als Bischof von Brixen bemühte er sich um umfassende Reformen in seinem Bistum. Nikolaus´ Tätigkeit als Bischof von Brixen verdient ohne Zweifel eine eingehende Würdigung, die in einem Lexikonartikel nicht geleistet werden kann (vgl. HALLAUER, Gesammelte Aufsätze; BAUM, Nikolaus Cusanus in Tirol). Von den anderen deutschen Bischöfen seiner Zeit unterscheidet er sich nämlich dadurch, dass er sich nicht so sehr als ein Fürst, sondern als Seelsorger versteht, der sich für die ihm anvertrauten Gläubigen in einem fast schon modernen Sinn verantwortlich fühlt. Im Zentrum seines Wirkens steht die Verkündigung des Gotteswortes in Form der Predigt. Von Nikolaus sind 293, teilweise sehr umfangreiche und gewissermaßen als philosophisch-theologische Traktate konzipierte Predigten erhalten, die zum Großteil während der genannten Legationsreise und zu der Zeit entstehen, als er als Bischof in Brixen tätig ist. Dazu muss man wissen, dass es im Spätmittelalter für Bischöfe im deutschen Sprachraum eher unüblich war, selbst zu predigen. Nikolaus dagegen reitet sogar auf Eseln in hochgelegene Bergdörfer, um persönlich Kirchen einzuweihen und den Gottesdienst mit Predigt mit der einheimischen Bevölkerung zu feiern. Außerdem bemüht er sich nachhaltig um die Bildung des Klerus durch die Abhaltung von Diözesansynoden und er bekämpft den Aberglauben, u. a. auch den Hexenwahn, der gerade im Gebirge weit verbreitet war.
Zugleich will er die Unabhängigkeit des kleinen Hochstiftes Brixen, dessen Landesfürst er ist, erhalten und den Einfluss des Herzogs von Tirol Sigismund und der mit diesem verbundenen Adeligen zurückdrängen. Das Bistum Brixen umfasste praktisch ganz Tirol und angrenzende Gebiete, das Hochstift Brixen nur kleinere Gebiete im heutigen Südtirol. In diesem Konflikt scheitert Cusanus. Er wird mehrfach bedroht und muss schließlich 1458 fluchtartig sein Bistum verlassen, nachdem er sich aus Angst vor Anschlägen bereits über ein Jahr in der hoch in den Dolomiten gelegenen Burg Buchenstein, an der Grenze zu Venetien, aufgehalten hat. 1460 kehrt er für kurze Zeit nach Brixen zurück, er wird in Bruneck von Herzog Sigismund überfallen und flieht wiederum. Er bleibt bis zu seinem Tod Bischof von Brixen ohne seine Diözese noch einmal zu betreten.
Nikolaus war an diesem Scheitern, wie bereits angedeutet, keineswegs vollkommen unschuldig. Die Kehrseite seines unermüdlichen Eifers bilden seine persönliche Unduldsamkeit und Strenge, die für Schwächen und Unzulänglichkeiten anderer Menschen oft nur wenig Verständnis aufbringt. Dieser Charakterzug des Kardinals verschärft sich seit der großen Legationsreise merklich, auf der anderen Seite neigt er mit zunehmendem Alter oft unvermittelt zur Resignation. Die fortwährenden Auseinandersetzungen und Kämpfe über mehrere Jahrzehnte hinweg, in die Nikolaus von Kues seit seiner Anwaltstätigkeit für Ulrich von Manderscheid verwickelt war, haben ihre Spuren hinterlassen. "Der alte Cusanus", so Erich Meuthen, "verliert seine Geschmeidigkeit, wird immer hastiger, fordernder, härter, unduldsamer, und dann oft in überraschendem und unausgeglichenem Stimmungswechsel weicher und deprimierter, als es der jeweiligen Situation angemessen gewesen wäre" (Rheinische Lebensbilder, 51).
Zweifelsohne schuf sich Nikolaus in Brixen unnötig viele Gegner, was letztlich mit dazu beitrug, dass er seine Diözese verlassen musste. Im Rückblick kritisiert Cusanus sein eigenes Verhalten als Bischof von Brixen. In einem Brief an seinen Freund, den Bischof von Eichstätt Johannes von Eych vom 11. Juni 1460, bekennt er als den Grund seines Scheiterns, zu sehr auf die Macht und das Ansehen der Kirche geschaut und zu wenig für die Armen getan zu haben. "Ich hadere nicht", so schreibt Cusanus, "Gott sei mein Zeuge, dass mir dieses widerfahren ist. Voller Freude hatte ich gehofft, mein Leben durch einen ruhmvollen Tod für die Gerechtigkeit beschließen zu dürfen. Allein ich war nicht würdig. Mir ist zu Bewusstsein gekommen, dass die Kirchen durch den Eifer der Oberhirten in ihrem weltlichen Besitz nicht vermehrt, sondern nur erhalten werden sollen ... Auch ich wollte meine Kirche reicher machen, gab den Armen nur wenig. Diesen Irrtum erkannte ich erst jetzt. Daher traf mich die Strafe. Trösten wir uns, ... dass Gott uns bestrafte, um uns so unsere Verfehlung zu zeigen, damit wir in Zukunft mit mehr Eifer die geistlichen Pflichten erfüllen und die Sorge um den weltlichen Besitz zurückstellen. Denn vor allem anderen müssen wir Gott über die Erfüllung unserer seelsorglichen Pflichten Rechenschaft abgeben." (Zit. n. HALLAUER, MFCG 21, 305f.)
Die letzten Jahre seines Lebens verbringt Nikolaus in Rom als Kurienkardinal. Zeitweise ist er Generalvikar des Papstes. Interessant ist, dass Cusanus, der den Deutschen seit dem Wechsel zur Papstpartei im Jahr 1437 als "Italiener" bzw. als "Römling" galt, jetzt in Rom mit seiner Sturheit und Prinzipientreue gewissermaßen als typischer Teutone angesehen wird, wie man etwas plakativ sagen darf. Ein Beobachter nennt ihn in dieser Zeit duri cervicis, was man vielleicht mit "Dickschädel" übersetzen kann (HALLAUER, Landesfürst in Brixen, 31). Sein Reformeifer widerstrebt seinen Zeitgenossen, einschließlich dem italienischen Papst Pius II., vormals Enea Silvio Piccolomini, der ein Freund von Cusanus war. Jetzt kümmert er sich vor allem um die Reform der römischen Kurie und macht sich damit, wie so oft in seinem Leben, unbeliebt. So beklagt er sich einmal beim Papst nach dessen eigenem Bericht: "Nichts gefällt mir, was hier an der Kurie getrieben wird; alles ist verdorben, keiner tut seine Pflicht. Beobachtung der Kanones? Ehrfurcht vor den Gesetzen? Eifer im Gottesdienst? Ehrgeiz und Habsucht fördern alle! Wenn ich im Konsistorium endlich einmal von Reform spreche, werde ich ausgelacht." (Zit. n. MEUTHEN, Die letzten Jahre, 81).
Als Generalvikar des Papstes in temporalibus berief Nikolaus 1459 eine römische Diözesansynode zur Reform der stadtrömischen Kirche und insbesondere des Klerus ein, die zwei Jahre später noch einmal erneuert wurde. Die nächste römische Diözesansynode fand 1960, also erst 500 Jahre später statt, sie wurde einberufen von dem großen Konzilspapst Johannes XXIII. (MEUTHEN, Schlaglichter, 45).
Am 11. August 1464 stirbt Nikolaus, wie bereits eingangs erwähnt, in Todi. Er liegt begraben in seiner römischen Titelkirche "San Pietro in Vinculi", sein Herz befindet sich in der Kapelle des St. Nikolaus-Hospitals in Kues, das Cusanus zusammen mit seinen Geschwistern gestiftet hat, um 33 alten und bedürftigen Männern ein Heim zu bieten. Das Hospital, "die wohl größte, teuerste und aufsehenerregendste Stiftung nicht nur im spätmittelalterlichen Bistum Trier, sondern im ganzen Rheinland (SCHMID, TRITZ, Sorge, 221) existiert noch heute und dient immer noch dem ursprünglichen Stiftungszweck. Im Hospital befindet sich ebenfalls noch immer die Bibliothek des Cusanus, eine der bedeutendsten und wertvollsten Privatbibliotheken des späten Mittelalters. Das Hospital enthält also das zweifache Vermächtnis des Nikolaus von Kues: Einerseits dokumentiert es sein Bemühen um tätige Nächstenliebe im Sinne des Evangeliums, welche sich in der Sorge um die Armen und Alten ausdrückt; andererseits findet sich im Hospital der Schatz seiner Bibliothek, welche seine eigenen Schriften und die Schriften, die er studiert hat, enthält.
Das bleibend Bedeutsame an seiner Person ist in erster Linie die geistige Hinterlassenschaft seiner Werke und Ideen, die Nikolaus als eine führende Gestalt der europäischen Geistesgeschichte zwischen Mittelalter und früher Neuzeit ausweisen. Er ist als Mensch des 15. Jahrhunderts eine Gestalt zwischen beiden Epochen, weil er in seinem Denken in den Idealen der mittelalterlichen Welt wurzelt, aber diese zugleich überschreitet und damit in vielen Punkten in die Neuzeit weist. Dies soll nun anhand einiger Beispiele verdeutlicht werden, ohne damit anachronistischen Aktualisierungen und Modernisierungen seines Denkens das Wort zu reden.
Das Staunenswerte am Leben des Nicolaus Cusanus ist, dass er nie die ruhige und zurückgezogene Existenz eines Universitätsgelehrten führte und nicht führen wollte (er hatte zwei Angebote für kirchenrechtliche Lehrstühle an der Universität Löwen, die er ablehnte; AC I,1; n. 64 und 232), sondern über viele Jahre hinweg höchste politische und zugleich kirchliche Ämter innehatte, aber trotzdem auf vielen Gebieten, vor allem im Bereich der Mathematik, der Theologie und der Philosophie, große Leistungen vollbrachte. Auch für die experimentellen Wissenschaften interessierte er sich und er schrieb ein Buch über Experimente mit der Waage, die er selbst durchgeführt hatte (Idiota de staticis experimentis). Diese frühen Experimente des Nikolaus von Kues weisen - unabhängig von ihren konkreten Inhalten - auf das Ideal der neuzeitlichen Naturwissenschaft, welches durch Galileo Galilei zum Durchbruch gelangte (vgl. NAGEL, Entstehung der exakten Wissenschaften).
Cusanus betrieb ebenfalls astronomische Forschungen und eine der ältesten Landkarten von Mitteleuropa geht auf ihn zurück. Wir haben von dieser Tatsache Kenntnis, weil auf der zweitältesten Karte des deutschen Reiches, die erhalten geblieben ist, zwischen den Städten Trier und Koblenz nur ein Ort eingetragen ist, das kleine Dorf Kues, aus dem unser Nicolaus Cusanus stammt (vgl. MEUTHEN, Profil, 784). Außerdem bewies er noch vor dem italienischen Humanisten Lorenzo Valla die Unechtheit der sog. Konstantinischen Schenkung, hier zeigt sich sein Sinn für Quellenkritik (De conc. cath. III, 2: h XIV2, n. 294-312), und er überwand durch metaphysische Spekulationen das ptolemäisch-geozentrische Weltbild, demzufolge die Erde im Mittelpunkt des Universums ist. Cusanus ist allerdings auch kein Anhänger des kopernikanischen Heliozentrismus, für ihn gibt es keinen Mittelpunkt in einem "privativ" unendlichen Universum, dessen Anfang und Ende nicht feststellbar sind (De docta ign. II,11).
Cusanus eröffnet mit seiner Person die Reihe jener europäischen Denker, die nicht schul- und institutionengebunden, sondern nur individuell auf sich gestellt, die Entwicklung der neuzeitlichen Wissenschaften maßgeblich geprägt haben. Dazu gehören außer ihm u. a. auch: Leonardo da Vinci, Erasmus von Rotterdam, Kopernikus, Kepler, Descartes, Spinoza und Rousseau (vgl. MEUTHEN, Profil, 788). Ebenso wie er selbst keiner wissenschaftlichen Schule angehörte, so hat er auch seinerseits keine Schule gebildet. Das Denken des Cusanus eignet sich nicht für eine schulmäßige Aneignung und er selbst stand der Haltung der Universitätswissenschaft skeptisch gegenüber. Sein Ideal ist nicht die professorale, sich aus Büchern und überkommenem Wissen speisende Existenz (obwohl er ein großer Büchersammler war!), sondern die Haltung des Idiota, des Laien, der vorurteilsfrei die Phänomene der Wirklichkeit untersucht und zu ihrem tieferen Grund vordringt. Sein Motto lautet im Anschluss an das Buch der Sprüche (1,20): sapientia clamat in plateis ("Die Weisheit schreit auf den Plätzen", De sap. I: h V2, n. 3), d. h. man muss sie in der Erfahrung des Alltäglichen suchen und zu erkennen lernen.
Die Weisheit - das ist für Cusanus letztlich Gott. Der Gottesfrage sind viele Schriften des Cusanus gewidmet. Dabei hütet er sich aber, Gott einfachhin als Gegenstand unter Gegenständen zu betrachten, sondern betont unermüdlich den Unterschied zwischen Unendlichem und Endlichem, Gott und Mensch. Diese Einsicht drückt sich, wie bereits angedeutet, in dem Begriff docta ignorantia, belehrtes bzw. wissendes Nichtwissen aus.
All unser Erkennen ist, wie Cusanus in der Schrift De coniecturis ausführt, Mutmaßung, es vollzieht sich "in Andersheit", d. h. im Bereich des Endlichen, und kann deshalb die Wahrheit an sich nie genau erfassen (De coni. I,11: h III, n. 57). Der menschliche Intellekt erkennt Unbekanntes durch den Vergleich mit Bekanntem; er bewegt sich im Irdischen im Bereich des "Mehr oder Weniger", das schlechthin Größte bzw. Kleinste, der unendliche Gott, entzieht sich der Methode der vergleichenden Untersuchung (vgl. die regula doctae ignorantiae in De ven. sap. 26: h XII, n. 79). Dementsprechend betont Nikolaus von Kues das Inkommensurabilitätsprinzip: "inter infinitum et finitum nulla est proportio" - zwischen dem Unendlichen und dem Endlichen besteht keine Verhältnisbeziehung", das er oftmals wiederholt (vgl. HIRSCHBERGER, Inkommensurabilität). Deshalb geschieht Gotteserkenntnis durch "docta ignorantia", im Paradox, als Umfassen des Nichtbegreifbaren in unbegreifbarer Weise (De docta ign., Epist. auct: h I, p. 163).
Die Erkenntniskritik verknüpft sich bei Cusanus vielfach mit dem biblischen Motiv der Verborgenheit Gottes (vgl. Jes 45,15; BEIERWALTES, Der verborgene Gott). Gott werde, so schreibt Cusanus, in den vielen religiösen Riten in unterschiedlicher Weise gesucht und mit verschiedenen Namen benannt, bleibe aber in sich unbekannt und unaussprechbar. Die verschiedenen Gottesnamen der Völker und Religionen betrachtet Cusanus als legitime Versuche, sich der Unendlichkeit und Verborgenheit Gottes aus notwendigerweise unterschiedlichen Blickwinkeln zu nähern, wobei jeweils eine bestimmte, Gott wegen seiner Vollkommenheit zugeschriebene Eigenschaft im Vordergrund stehe (vgl. Sermo I: h XVI, n. 2-5; De docta ign. I,24-25: h I, p. 48-53).
Die stete Hervorhebung der Differenz zwischen Unendlichem und Endlichem, Gott und Mensch, besitzt bei Cusanus eine besondere Pointe. Sie führt bei ihm nicht zur Skepsis oder zum Fideismus, d. h. zum reinen Glaubenspostulat, sondern bringt ihn im Gegenteil dazu, die gesamte geschaffene Wirklichkeit und zugleich das je einzelne Seiende in seiner begrenzten Symbol- bzw. Verweisfunktion auf das Göttliche hin zu sehen. Mit diesem Ansatz korrespondiert eine besondere Hochschätzung der Individualität bzw. Singularität, die zugleich eine grundsätzlich positive, wenn auch keineswegs vorbehaltlos positive Wertung von Vielheit bzw. Verschiedenheit impliziert. Auch in diesem Punkt überschreitet Nikolaus das Denken der mittelalterlichen Scholastik und weist in die Neuzeit.
Das göttliche Eine spiegelt sich Cusanus zufolge im Vielen in je eigener Weise. "Warum", so fragt Nikolaus in der Predigt CLXX, "gibt es so viele Sprachen, wenn nicht dazu, das Unbenennbare besser zu benennen? Warum gibt es so viele Menschen, wenn nicht dazu, die unausdrückbare Menschheit besser auszudrücken? Warum gibt es so viele Geschöpfe, die Abbilder Gottes sind, wenn nicht dazu, die Wahrheit besser in Vielfalt zum Ausdruck zu bringen, die in ihrem Ansichsein unausdrückbar ist?" (h XVIII, n. 8)
Diese Schlussfolgerung dehnt Nikolaus auch auf die verschiedenen Religionen aus. In der bereits erwähnten Schrift De pace fidei ("Der Friede im Glauben") wird die varietas rituum, die Vielfalt der Riten und religiösen Gebräuche positiv gewertet und als Beitrag zur Mehrung der Gottesverehrung betrachtet, insofern sich in ihr jener eine Glaube ausdrückt, den Cusanus zufolge alle Religionen als ihren inneren Kern voraussetzen (vgl. De pace 1: h VII, n. 6). Cusanus entwickelt in diesem nach der Eroberung Konstantinopels durch die Türken 1453 verfassten Buch den heute noch faszinierenden Gedanken einer una religio in rituum varietate, einer Einheit der Religion in der Vielfalt der Riten und Gebräuche. Er sieht alle Religionen, auch den in Europa damals so verhassten Islam, rückgebunden an die eine göttliche Wahrheit, die sich in Christus inkarniert und offenbart habe.
Nach Cusanus müssen die kulturellen und geistlichen Schätze der Religionen von christlicher Seite geachtet werden und können das Christentum vielfältig bereichern. In den Religionen drücke sich nämlich die spirituelle Menschennatur mit all ihrer Sehnsucht sowie ihrem Streben nach Gott aus und Christus, der göttliche Logos, sei, so die feste Überzeugung des Kardinals aus Kues, ebenfalls in den nichtchristlichen Religionen und darüber hinaus in allen Formen der ehrlichen menschlichen Wahrheitssuche präsent (vgl. EULER, Wegbereiter).
Für die Ideen von De pace fidei gilt ähnlich wie für viele andere Schriften des Nikolaus von Kues, dass sie noch längst nicht erschöpfend bedacht und ausgewertet sind. Wir befinden uns, vielleicht nicht zufällig, zurzeit in einer Periode der Cusanus-Renaissance. Nikolaus von Kues ist ein unruhiger Geist, der ständig auf der Suche bzw. noch schärfer formuliert auf der Jagd nach der Weisheit ist, wie er sich selbst ausdrückt (vgl. De ven. sap.). Diese Unruhe können die Menschen von heute gut nachempfinden, weil wir ebenfalls in unruhigen, von epochalen Umbrüchen geprägten Zeiten leben.
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